Jockele sperr!

Flösser durch Tübingen
(Bildquelle)
Am 26. Oktober 1899 passierte das letzte Neckarfloß die malerische Neckarfront von Tübingen.
Eine stattliche Anzahl von Studenten der Verbindung "Normannia" war dem Floß entgegengeeilt und mit zwei Fass Bier und zwei Schachteln Zigarren in Rottenburg zugestiegen, um die letzte Fahrt durch Tübingen mitzumachen.
Auf der alten Neckarbrücke herrschte ein beinahe "lebensgefährliches Gedränge" und "aus allen Fenstern am Ufer entlang erscholl in ohrenbetäubender Weise der alte Ruf "Jockele sperr!"
Damit wurde ein versöhnlicher Schlussstrich unter den jahrhundertelangen Kleinkrieg zwischen Flößern und Studenten gezogen.
So sollen am 8. Juni 1586 (oder 1584?) einige Studenten und adlige Zöglinge der Sonntagspredigt ferngeblieben sein und stattdessen vorbeifahrende Flöße mit Steinen beworfen und die Flößer durch Beleidigungen erzürnt haben. Diese ließen sich das nicht gefallen und beschwerten sich tags darauf beim Rektor. Offenkundig hatten sie deshalb die Fahrt unterbrochen und in Tübingen übernachtet. Der Rektor ließ die Übeltäter einstweilen in den Karzer bringen. Am folgenden Dienstag (Senatsprotokoll vom 10. Juni 1586) beriet sogar der Senat die Angelegenheit und verhängte für die Studiosi acht Tage Einzelhaft im Karzer.(Eck)

Man kann sich unschwer vorstellen, dass die Passage der Flöße, gelenkt von derben Naturburschen, die akademischen Stubenhocker zu manchen Streichen reizte. Megaphone aus Papier sollen zum festen Inventar eines Studentenzimmers an der Neckarfront gehört haben.

Allerdings waren die Flößer auch nicht aufs Maul gefallen:
Ein Flößer namens "Soallers Karle" rief einmal einem älteren Studenten zu:
"Halt dei Gösch, dau alts Kamel; schao so lang i do ra komm, bist dau Student!"
Jockele sperr
(Bildquelle)
Theodor Haering schildert in seinem Buch "Der Mond braust durch das Neckartal" auf mehreren Seiten eine Floßdurchfahrt in ihrer ganzen Dramatik.
Da die ersten Rufer nach getanem Werk nicht etwa aufhörten, sondern in kurzen Pausen unablässig den Warnungsruf [Jockele sperr!]von neuem hören ließen, und alle folgenden desgleichen, so fand der arme Jockele, wenn er die ersten Häuser Tübingens endlich wirklich, langsam wie sein Handwerk es erforderte, passierte, ja, schon lange vorher, die ganze Luft hinter sich und vor sich und über sich in allen Tonarten mit dem gefürchteten Ruf erfüllt und er trachtete mit seinen Genossen, vor Wut immer röter werdend, immer rascher, möglichst bald aus dem Höllenbezirk dieses ihm geltenden teuflischen Geschreis herauszukommen.
Aus einer Anmerkung Haerings erfahren wir die Übersetzung des "Jockele sperr!" in klassisches Latein.
"Jacobule! siste carinam!"
Ein literarisches Zeugnis aus dem 19. Jahrhundert ist der Aufsatz Heinrich von Treitschkes über Ludwig Uhland. Darin schreibt der berühmte Berliner Historiker über Uhlands Lebensumfeld in Tübingen:
Nahe der Neckarbrücke stand sein freundliches Haus mitten im Rebgarten am Abhange des Osterberges ... Dort sah er Jahr für Jahr jene denkwürdigen Ereignisse an sich vorübergehen, welche die Ruhe dieses akademischen Flachselfingen unterbrechen. ... das Vieh ward in den Neckar zur Schwemme getrieben, die Stadtzinkenisten bliesen ihren Choral vom Thurme, und -- das Wichtigste von allem -- die berufenen Flößer, die Jockele's, führten das Holz des Schwarzwaldes thalwärts und wechselten mit den alten Erbfeinden, den Studenten, homerische Schimpfreden. [Flachselfingen ein Ort aus dem "Quintus Fixlein" von Jean Paul (1763-1825) gleichbedeutend mit "Krähwinkel"]
Sicherlich war Treitsche selbst Zeuge solch "homerischer Schimpfreden", als er 1854 in Tübingen studierte.

Reiseberichte über Tübingen und Erinnerungen an die Studentenzeit vergessen fast nie, die Durchfahrt der Neckarflöße und das "Jockele sperr" zu erwähnen.

Wilhelm Ziebold: Erlebnisse in Kurorten und auf Reisen (1878)
Auch meine frühere Wohnung in der Neckarhalde schaute zu mir herüber. Heitere Erlebnisse waren zunächst damit verbunden. An jenen Fenstern standen wir oft in erregter Erwartung; denn es galt, den auf ihren Holzstößen vorbeifahrenden Neckarschiffern ein freundliches Mahnwort entgegen zu rufen. Langsam fahren sie dahin - sie sind da. Plötzlich öffnen sich alle Fenster, und die ganze Neckarhalde ertönt lange Zeit von dem gellenden Rufe der übermüthigen Musensöhne: Jockele sperr! Jockele speee-rr! Die Titel und Benennungen, die uns jetzt aus dem Munde der erbosten schwäbischen Schiffer als Antwort in die Ohren drangen, werden in den Büchern des feinen Tones und der Komplimente nimmermehr zu finden sein. Allein wir dachten eben: "Wer ausgibt, muß auch einnehmen."(Wiki Commons)
Postkarten zeigen Flößer auf dem Neckar geradezu als Tübinger Sehenswürdigkeit und eine Dialektkolumne im "Tübinger Tagblatt" trug den Titel "Jockele sperr".
Der Tübinger Dialektdichter Heinz Eugen Schramm hat den Flößern ein Gedicht gewidmet, ja sogar einem ganzen Gedichtband den Titel "Jockele sperr" gegeben.
I hair-es noh, wie d'Stiftler ond d'Rhenane
Dia Flößer ällmol hent zum Narre ghet.
"Jockele spe-a-err - es kommt en Aileboge!"
So hent dia Herrle sich vernemme lao,
Ond mancher Flößer hot sei Hos razoge,
Hot zua-n-en nübergiftet:"Ihr mi au!"

(Stiftler - Studenten des evangelischen Stifts, das direkt am Neckar liegt; Rhenane - Studenten der Verbidung "Rhenania"; Aileboge [Ellenbogen] entstehen, wenn sich die Gestöre übereinanderschieben und die Stämme sich verkeilen)
Selbst der Dichter Reinhard Döhl (1934 - 2004) setzt dem Jockele in seinem Gedicht "Atlantis" ein modernes Denkmal.
jockele sperr
die flößer kommen
schon lange nicht mehr
unter die brücken
jockele hau abe

Kurioses

Ein modernes Echo auf den Ruf "Jockele sperr" findet man bei der Fasnetsgruppe der Ammerdaal Hexa Tübingen e.V., die als eine ihrer Fasnetsfiguren das Jockele kreiert haben und auf ihrer Webseite die Figur in wissenschaftlich seriösem Ton beschreiben.
Das Jockele ist eine Einzelfigur:
Im Gegensatz zu den Hexa und Goischdr ist er eher ruhig, behäbig und die Übersicht bewahrend, wie sein historisches Vorbild der Tübinger [!] Neckarflößer.
Die Geschichte der Ammertal-Flößerei muss zwar noch geschrieben werden, doch erfahren wir - wie es sich für eine Narrenzunft aus einer Universitätsstadt gehört - schon mal die Herkunft des Namens "Jockele":
Sein Name Jockele stammt von Joculator - Gaukler ab.
Jockele als Joker, als Gaudi-Flößer auf dem Neckar - da kann man nur noch sagen:"Narri! Narro!"

Doch nun zum Ernst volkskundlicher Forschung - beglaubigt durch Wikipedia!

Dort lesen wir unter dem Stichwort Jäkles Grab die Erzählung vom Viehhirten, Hexenmeister, Wunderheiler etc. Michael Jäkle aus Bergfelden, einem Stadtteil von Sulz a.N..
Er starb 1627, und seine Lebensgeschichte wurde mit einem Sammelsurium von Sagenmotiven - meist der unheimlichen Art - angereichert.
In Erstaunen versetzt das Ende der Erzählung, wo wir erfahren, dass er "unwirsch reagiere, wenn ihm im Wald jemand mit 'Jockele sperr!' rufe". Denn dass der Jäkle als Flößer den Mühlbach unsicher gemacht habe, das fehlt bisher in der Geschichte. Die englische Version The Story of Jäkle gibt uns die Lösung des Rätsels. Da wird "Jockele sperr!" erläutert: That is a very old expression for 'slow down while driving in a carriage down a steep way'. Auf Deutsch: "Das ist ein sehr alter Ausdruck für 'fahr langsam, wenn du mit einem Wagen einen steilen Weg hinunterfährst'".

Das Jockele und sein Ruf sind offenkundung in ihrer Verbreitung nicht mehr zu bremsen! Vielleicht erfahren wir eines Tages, dass Charon, der Fährmann der antiken Unterwelt, in Wirklichkeit ein Flößer mit dem Namen Iokelos war :)

Restauran Jockele Beuren

Sachlicher Hintergrund

Eine der Sperrvorrichtungen eines Neckarfloßes war auf dem letzten Gestör. Wenn also der Oberflößer auf dem ersten Gestör den Bremser auf dem letzten mit dem Ruf "Jockele sperr" aufforderte, die Sperre zu betätigen, dann brauchte er dafür eine ziemliche Lautstärke, denn der Abstand konnte bis zu 300m betragen. Die Gefahr, dass sich die Stämme verkeilen und übereinanderschieben könnten, also "ein Ellenbogen" entstehen könnte, gab seiner Stimme noch zusätzliche Dringlichkeit. Man konnte seinen Ruf bestimmt im Umkreis meilenweit hören. Kein Wunder, dass "Jockele sperr!" bald ein Neckruf wurde. Jockel(e), die Kurzform von Jakob, ist ein im Schwarzwald sehr verbreiteter Name.
O-Ton

Hinten die Bremse, da war der Bremser, das war ein kräftiger, großer Flößer, der hat Bärenkräfte gehabt - musste haben, weil der Bremsbengel war aus Eiche, 3 ½ bis 4 m lang, und sehr, sehr schwer. Und das musste er bewältigen und musste mit der Bremse das Floß langsam machen können oder anhalten am Ufer.

Sprecherin:

Durch ein Loch im Floß hindurch setzte er den ganzen Eichenstamm auf den Flussgrund, ließ ihn schleifen und hob ihn dann wieder hoch. Wenn der Bremser nicht genug bremste oder der Mann am Vorspitz nicht aufpasste und aneckte, liefen die hinteren Gestöre auf die vorderen auf. Das ganze Floß verkeilte sich und bildete die Ellenbogen - eine Katastrophe.
(Wegner, Ursula: Die Schwarzwaldflößer)

Wenn das Floß festsaß, ging der Schwall, auf dem man sozusagen geritten war, auf und davon, und man musste zurück zur Wasserstube und neu anstauen. Dies bedeutete auch einen erheblichen Zeitverlust.

Durch das Bremsen konnten Schäden im Flussbett entstehen. Deshalb gehen die Floßordnungen auf die Zahl der Bremsen und darauf, wo gebremst bzw. nicht gebremst werden durfte, detailliert ein.

Im Vertrag von 1740
Artikel 35
wird von der "gesambten Fischerschafft" geklagt, dass durch die "Sperrinen, deren sich die Flözer von Zeit zu Zeit stärckher bedienen, an Wuhren, und Fachen, vornehmlich aber an denen Fuhrten, und Fischenzen unersezlich Schaden geschehen." Bestimmt wird, dass die Flößer an den "Orthen, wo es die Noth erforderet, Sperren mögen, bey denen Furthen und Wuhren aber solle es mit denen Sperrinen dergestalt gehalten werden, daß 20 Schritt ober- und 20 Schritt unterhalb derselben die Sperren nicht gebraucht" werden dürfen.
Auch in der Floßordnung vom 26.März 1856 heißt es
§12
Jeder Neckarfloß muß wenigstens mit zwei gut construirten Sperren versehen sein. Die Sperren dürfen jedoch bei Strafvermeidung nicht angewendet werden auf Stellen, auf welchen es polizeilich verboten ist, insbesondere über Fuhrten, und 20 Schritte oberhalb und unterhalb der Wehre.
Da die Bremser eine sehr verantwortungsvolle und anstrengende Tätigkeit hatten, bekamen sie mehr Lohn.